Erfolgreiches Network-Podium zur aktuellen Situation in Russland

Am Samstag, 6. September fanden knapp hundert Personen den Weg ins UBS-Konferenzgebäude Grünenhof in Zürich. 

Stefan Grieder begrüsste als erstes das Publikum im Namen des Vorstandes und des Organisationskomitees, im speziellen Sofia Hilgevoord, Präsidentin von Wybernet und Daniel Seiler, Präsident von EGMA, European Gay Managers Association, der europäische Dachverband der LGBT-Manager-Organisationen, welcher das Podium ideell und finanziell unterstützte sowie die PodiumsteilnehmerInnen:

Aus St. Petersburg Gulya Sultanova, Co-Organisatorin des «Side by Side Film Festival» und Svetlana Zakharova, Pressesprecherin des «Russian LGBT Network», aus Berlin Boris Dittrich, Advocacy Director for LGBT bei «Human Rights Watch», Andreas Gross, Nationalrat und Vertreter der Schweiz in der parlamentarischen Versammlung des Europarats, Botschafter Claude Wild, Leiter der Abteilung «Menschliche Sicherheit» beim eidg. Departement des Äusseren und Max Schmid, ehemals langjähriger Korrespondent des Schweizer Radio SRF in Moskau.

Dann erläuterte Stefan den Zweck dieses Anlasses: «Network ist primär in der Schweiz tätig. Hier gibt es noch einiges zu tun, beispielsweise die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die Beseitigung von gesetzlichen Diskriminierungen und vor allem am Arbeitsplatz. Im internationalen Vergleich haben LGBT-Menschen es in der Schweiz aber sehr gut. Manchmal gibt es Ausrutscher von gewissen Nationalräten, doch sicherlich ist Homophobie bei uns nicht die Norm.

In Russland ist das leider ganz anders. Dort hat sich das Klima für die LGBT-Community unter der Regierung Putin zunehmend verschlechtert. Das Regime hat eine Kette von repressiven Gesetzen erlassen und damit wurde Homophobie zur Norm. In der öffentlichen Wahrnehmung hat das Thema bei uns leider an Bedeutung verloren, es wurde verdrängt von den aktuellen politischen Ereignissen in der Ukraine. Doch die beiden Themen sind eng miteinander verbunden. LGBT-Rechte gelten in der Lesart des Putin-Regimes als sprechende Beispiele für die Dekadenz des Westens. Von diesem Westen will sich Russland differenzieren und schreckt dabei nicht vor Konfrontationen zurück.

Die LGBT-Community wird somit zu einem Spielball der innen- und aussenpolitischen Ausgrenzung. Beides sind beliebte Tricks von autoritären Regimes, und beides dient dem Machterhalt des Systems Putin.

Mit diesem Podium verfolgen wir zwei Ziele: Einerseits einen Beitrag zu leisten, damit die schwierige Lage der russischen LGBT-Community in der Schweizer LGBT-Community, und hoffentlich auch in der breiten Öffentlichkeit, nicht vergessen geht; andererseits, um von den direkt Betroffenen zu hören, wie man am besten helfen kann. Durch die spezielle russische Gesetzgebung ist beispielsweise eine finanzielle Unterstützung durch ausländische Nicht-Regierungs-Organisationen faktisch unmöglich.

Des weiteren wollen wir erfahren, was die Schweizer Aussenpolitik und Diplomatie tun kann, und wo dabei die Grenzen sind. Und schlussendlich wollen wir die Hintergründe ausleuchten, warum sich die Lage der russischen LGBT-Community in kurzer Zeit dermassen verschlechtert hat. Ja, und vielleicht sollten wir auch einmal innehalten und uns überlegen, könnte das Gleiche auch bei uns passieren?»

 

Einführungsreferat von Gulya Sultanova

«Ich möchte mich zuerst bedanken für diese Einladung. Sie ist für mich persönlich sehr wichtig, ich glaube aber auch für die russische LGBT-Community. Ich möchte euch Informationen aus erster Hand mitgeben, nicht nur über die sozialpolitische Lage der LGBT-Community, sondern auch über das allgemeine politische Umfeld. Die aktuelle Situation in der Ukraine mit einem verdeckten Einmarsch von russischen Truppen ist nicht plötzlich aus dem Himmel gefallen. Sie hat ihren Ursprung mit dem Amtsantritt von Putin vor 14 Jahren, und der Stärkung der Leute, welche hinter ihm stehen: Geheimdienste, das Militär und später auch die Russische Kirche. Seit 14 Jahren erleben wir eine Attacke auf unabhängige Medien. Nach dem Amtsantritt von Putin ist die damals grösste und informativste Fernsehanstalt zerschlagen worden. Die Eigentümer wurden aus Russland verbannt. 

Seit dieser Zeit hat die Duma viele Gesetze verabschiedet, welche den Geheimdiensten mehr Macht verleihen und andererseits der Zivilgesellschaft viele Rechte weggenommen haben. Die diskreditierende Kampagne gegen NGO’s (Non Governmental Organizations), wie wir sie heute erleben, gab es schon einmal in den Jahren 2005/06. Die Gerichte wurden inzwischen immer mehr an die Staatsmacht gebunden. Heute ist es Richtern untersagt, sich mit ausländischen Kollegen auszutauschen, sie dürfen an internationalen Kongressen nicht mehr teilnehmen. Das ist unglaublich. All dies verstärkt die Position des totalitären Regimes.

Lange Zeit warb die Regierung für mehr Toleranz, Verwirklichung der Menschenrechte, sogar europäische Werte wurden gelobt. NGO’s konnten dank diesen Vorgaben viel erreichen. Vor drei Jahren war Schluss damit. Wenn man heute über positive Erfahrungen im Westen berichtet, ist das schon fast der Beweis für ausländische Agententätigkeit. Der Nationalismus ist viel stärker geworden. Zuerst gab es Übergriffe auf Immigranten-Gruppen, danach wurden LGBT-Menschen zu den neuen Feinden. Jetzt sieht man, wie der Antisemitismus wieder virulent wird. In den Medien wird gegen Juden gehetzt.

An dieser Stelle möchte ich etwas in vergangene Zeiten zurückschauen. In der Sowjetunion wurde Homosexualität 1918 entkriminalisiert. In den 20er Jahren konnten in den grossen Städten Schwule, Lesben und Transmenschen relativ frei leben und eine kleine, aktive Szene entstand. Es gab sogar wissenschaftliche Studien zur Transsexualität. In Schweden beispielsweise, wurde die Sowjetunion als fortschrittliches Land für LGBT-Menschen gelobt. Unter Stalin, der 1927 faktischer Alleinherrscher wurde, waren unter den ersten Verfolgten auch Schwule. 1933 führte man ein Gesetz ein, das Homosexualität unter Strafe stellte. Dieses Gesetz galt bis 1991. Wir wissen nicht, wie viele schwule Männer darunter gelitten haben, wie viele in Gefängnissen sassen und oder deportiert wurden, und ob auch lesbische Frauen verfolgt wurden. Aber man kann sagen, Schwule, Lesben und Transgender wurden stark stigmatisiert. Alle lebten im Versteckten.

Daher ist die LGBT-Bewegung in Russland sehr jung. Erst Ende der 90er Jahre ist es möglicher geworden, über Homosexualität zu sprechen. Dies kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der neuen Art von gesellschaftlichen Diskussionen. Die Medien veröffentlichten sporadisch Berichte und Beiträge zur Homosexualität. Und es gab einige Parteien, die machten politischen Zirkus, stellten beispielsweise Homosexualität und Zoophilie auf die gleiche Stufe und wollten beides legalisieren. Das waren zwar Randerscheinungen, doch die haben mit ihren extremen Forderungen die Diskussion überreizt. In den Nullerjahren gab es eine Debatte im Internet, was kann man zur Verbesserung der Situation tun. Erst 2005 machte man den ersten Versuch, eine Gay Pride in Moskau zu veranstalten. 2008 gab es schon mehrere LGBT-Organisation. Das ‹Side by Side Film Festvial›, das ich vertrete, ist in dieser Zeit entstanden. 

Der ganze Diskurs war für den Grossteil der Bevölkerung etwas völlig Neues. Es war früher ein absolutes Tabu, in der Öffentlichkeit über Sex zu sprechen. Rechte für LGBT-Menschen und Sexualität wurden ein Zwillingsthema in der öffentlichen Wahrnehmung. In dieser Zeit haben wir versucht, ein Rechtsbewusstsein in der Community zu wecken, aber auch in der breiten Gesellschaft. LGBT-Menschen haben angefangen offen zu leben, wenigstens im Freundeskreis oder in der Familie. Doch das Ganze war ein marginales Thema für die Bevölkerung, bis die Regierung uns als Beispiel für die westliche Dekadenz hinstellte, uns zum Sündenbock machte und eine homophobe Kampagne lostrat. Dies war eine Ablenkung von sozialen Problemen, von der Korruption der Regierung und der Unzufriedenheit eines Teils der russischen Bürger. Diese Kampagne war ziemlich erfolgreich, die Menschen haben kein genderbezogenes Wissen, in den Schulen gibt es keine sexuelle Aufklärung, daher glauben die meisten, was sie im Fernsehen serviert bekommen: Gleichstellung bedeutet Homosexualität und ist gleich schändlich wie Pädophilie. Es ist daher viel schwieriger geworden für uns, Gehör zu bekommen. Doch die ganze Hetzkampagne hat auch etwas Gutes, man sah zum ersten Mal Schwule, Lesben und Transmenschen, wir haben ein Gesicht bekommen – aber auch die Neonazis. Leute die frei denken, konnten entscheiden, mit welchen Werten sie sich identifizieren. Wir durften Solidarität erleben und haben einen grossen Schritt gemacht hin zum Verständnis unserer Lebensform.

Ich zeige euch ein kleines Video zur Zensur. Wir haben drei Videos zum Thema ‹Stopp Homophobie› in Zusammenarbeit mit amerikanischen Animations-Spezialisten produziert. Alles, was man im Video sieht, passiert leider in Russland. Es gibt schon Initiativen von ultrakonservativen Kreisen für die Ermitage eine Altersbegrenzung einzuführen, weil dort Kunstwerke mit nackten Männern und Frauen zu sehen sind. Das ist alles zum Lachen, die Mehrheit in Russland lacht darüber, doch diese Leute sitzen im Parlament und haben grossen Einfluss. Einen Regenbogen zu malen mit Kindern, das kann verboten werden. Der Initiator der homophoben Gesetze wollte auch, dass alle Regenbogen entfernt werden, egal, in welchem Zusammenhang sie irgendwo zu sehen sind. Was er mit dem natürlichen, atmosphärischen Regenbogen machen will, das weiss ich nicht! Die neokonservative Bewegung, wie auch die Russisch Orthodoxe Kirche, stützt das Regime und fordert dafür die Verwirklichung ihres Gedankenguts.

In Russland gibt es etwa zehn registrierte LGBT-Organisationen. Viele offen schwul oder lesbisch lebende Lehrpersonen wurden entlassen. Für solche Leute bieten wir Unterstützung und juristische Beratung an. Leute die attackiert wurden, begleiten wir bei Anklage und vor Gericht, damit die Schuldigen verurteilt werden. Alle Menschenrechtsorganisationen sitzen heute in einem Boot. Einige davon hatten früher eine homophobe Einstellung, sie haben ihre Einstellung in-zwischen geändert.»

 

Einführungsreferat von Boris Dittrich

«‹Human Rights Watch› hat ein Büro in Moskau. Meine Kollegen von dort alarmierten uns über die Situation für LGBT-Menschen und wir haben entschieden, Untersuchungen vorzunehmen. Während der ganzen Debatte in der Duma über das Anti-Propaganda-Gesetz, das jegliche positive Äusserung über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen verbietet, wurden grässliche Sachen verbreitet. Ein Abgeordneter schlug in der öffentlichen Debatte in der Duma vor, man müsse dafür sorgen, dass keine Organe von Schwulen oder Lesben transplantiert würden, diese Organe müssten verbrannt werden, die Gesellschaft müsse man schützen von einer schwulen oder lesbischen Infizierung. Kein Politiker hat dem widersprochen. Mit solchen öffentlichen Hasstiraden wird die Situation für LGBT-Menschen sehr schwierig.»

Boris Dittrich zeigte uns ein Video über homophobe Schlägertruppen, welche in der Öffentlichkeit Schwule schikanieren, beschimpfen, zusammenschlagen und den Beweis ihrer Schandtat im Internet auf Youtube veröffentlichen. Die Schläger haben praktisch Straffreiheit, die Polizei macht sich kaum die Mühe die Peiniger zu verfolgen. Zu einer Anklage und Verurteilung kommt es fast nie.

Boris Dittrich erläuterte uns danach negative Entwicklungen im internationalen politischen Diskurs: «Russische Diplomaten beim Menschenrechtsrat der United Nations in Genf sind sehr aktiv. Sie haben eine Resolution eingereicht, die auf den ersten Blick sehr harmlos aussieht. Deren Titel ‹Promoting Human Rights and Fundamental Freedoms through a Better Understanding of Traditional Values of Human Kind› hört sich sehr klug und kultiviert an. Doch diese traditionellen Werte werden benützt um LGBT-Menschen oder andere Minderheiten und Frauen von den gleichen Rechten auszuschliessen. Wenn man über traditionelle Werte nachdenkt und diese analysiert, sieht man, das sind absolut furchtbare Wertvorstellungen, die wiederbelebt werden sollen: Kinderheirat, Frauenbeschneidung usw. Wir müssen darauf bestehen, dass die universellen Menschenrechte einen grösseren Wert haben als die ‹traditionelle Werte›. 

Wir sehen, Putins Ziel ist die traditionelle Familie zu stärken: Mann und Frau und deren Kinder, das muss man schützen. Regenbogenfamilien sind abweichend und schlecht für die russische Nation. Putin erklärte, lesbische Frauen und schwule Männer könnten sich nicht fortpflanzen. Es ist ihm wohl noch nie in den Sinn gekommen, dass auch lesbische Frauen Kinder kriegen oder schwule Männer Vater sein können. Das ist eine eindimensionale Sicht der Familie als Keimzelle des Staates und ächtet alle anderen Lebensformen. 

Leider haben die russischen Diplomaten sehr viel Einfluss in der Welt. Beispielsweise in Uganda und Nigeria, aber auch in Litauen, Moldawien, Kirgistan oder in der Ukraine. Dort gibt es Debatten über Anti-Propaganda-Gesetze nach russischem Vorbild. Die russischen Anti-Gay-Gesetze schwappen wohl bald über in andere Länder.

Ich möchte hier ein Beispiel geben, wie Homosexualität als politisches Werkzeug benutzt wird. In Kiew, Ukraine, bei den grossen Demonstrationen auf dem Maidan, wo die Leute für einen Annäherung zur EU oder zu Russland demonstrierten, da tauchte eine Gruppe auf, welche den Beitritt zur EU forderte, mit dem Argument, dann gebe es bald die Heirat für gleichgeschlechtliche Paare. Man muss wissen, in der Ukraine gibt es überhaupt keinen politischen Diskurs in dieser Richtung. Es stellte sich heraus, dass es sich um bezahlte Demonstranten des prorussischen Lagers handelte, um mit diesen ungewohnten Argumenten in der Bevölkerung Emotion zu wecken und Angst vor europäischen Werten zu schüren.

Die russische Gesellschaft ist mit verschiedenen Problemen konfrontiert: Mit einer schwierigen wirtschaftlichen Lage, mit Intoleranz gegen ethnische Minderheiten, mit Korruption und mit Armut. Warum haben russische Politiker LGBT-Menschen im Visier und benutzen diese in ihrer Rhetorik? Das eine ist, Präsident Putin ist dringend auf die Stimmen aus dem konservativen Lager angewiesen, um an der Macht zu bleiben. Das andere, die Russisch Orthodoxe Kirche will erhört werden und diese ist sehr homophob. 

Mit der Diskrimierung von LGBT-Menschen markiert Putin auf der internationalen Bühne seine Position. Die Politik des amerikanischen Präsident Obama gilt als gayfriendly, wie auch der ganze Westen. Putin inszeniert sich im Gegensatz dazu als Bewahrer von traditionellen Werten. Wir sehen das in der United Nations und im Menschenrechtsrat, Russland lehnt konsequent alle Vorstösse ab, welche die Rechte von LGBT-Menschen betreffen.

Wie das russische Regime tickt, sieht man auch an folgender Geschichte, die sich vor rund 10 Monaten ereignete. Der stellvertretende Botschafter Russlands in den Niederlanden kam sturzbetrunken nach Hause und verprügelte seine eigenen Kinder. Die flohen schreiend in den Garten und rieften um Hilfe. Die Nachbarn alarmierten die Polizei, welche den Vater verhaftete. Aufgrund seines diplomatischen Status musste man ihn bald entlassen und es kam zu einem diplomatischen Eklat. Putin gab Interviews, in den er eine offizielle Entschuldigung der Niederlande forderte. Das machte der niederländische Aussenminister auch, allerdings relativierte er die Entschuldigung, die Polizei habe den Schutz von Kindern höher gewichtet als den diplomatischen Status –, und dafür habe er Verständnis.

Ein paar Tage später, als der stellvertretende niederländische Botschafter in Moskau nach Hause kam, warteten zwei Handwerker vor seiner Tür. Es gebe keinen elektrischen Strom im Haus, ob er die Tür öffnen könne, damit sie alles kontrollieren könnten. Als er mit ihnen drinnen im Haus war, wurde er zusammengeschlagen, an einem Stuhl gebunden und geknebelt. Mit einem Lippenstift malten sie ein Herz auf einen Spiegel und die Buchstaben LGBT. Keine geläufige Abkürzung in Russland. Der stellvertretende Botschafter lebt offen schwul. Natürlich verneinte die russische Regierung, dass sie diese Attacke arrangierte. Es wurde aber nichts gestohlen. Es ist erschreckend, feststellen zu müssen, dass in Russland selbst Diplomaten vor solchen Übergriffen nicht sicher sind.

Etwas zu Russlands Politik im Europarat. Ich war Berater der Expertengruppe, welche eine Empfehlung ausarbeitete zu den LGBT-Rechten. Die Empfehlung ist nicht bindend, aber es ist ein sehr wichtiges Grundsatzpapier. In der Expertengruppe waren auch russische Delegierte und die waren sehr gut mit der Materie vertraut. Jeden Vorschlag, den wir machten, jeden Satz versuchten sie zu verwässern. Mit jeder Lesung wurde der Entwurf abgeschwächt. Das endgültige Dokument ist immer noch sehr wertvoll und umfassend für LGBT-Rechte. Es wurde vom Ministerkomitee angenommen, auch der stellvertretende russische Aussenminister hat das Dokument unterzeichnet. Darin wird ausdrücklich aufgrund der Versammlungsfreiheit, das Recht erwähnt, Gay Prides zu organisieren sowie das Recht auf freie Rede. Doch wir sehen, Russland befolgt keine dieser Empfehlungen. 

Russland befolgt auch keine Entscheide des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Im sehr bekannten Fall Alexejew gegen Russland, es ging dabei um die Nichtbewilligung der Gay Pride in Moskau, wurde Russland verurteilt, gebüsst und erhielt die richterliche Auflage, Gay Prides zuzulassen. Russland bezahlte die Busse, aber erlaubt keine Gay Prides. Es gibt keinen greifenden Mechanismus, um die Haltung der russischen Regierung zu ändern. Was kann man tun? Man kann Benennen und Anprangern (Naming and Shaming), man kann über diese Dinge sprechen, damit die Welt weiss, was in Russland vor sich geht.

Man kann sagen, ja das ist Russland und es ist schrecklich für Schwule und Lesben dort. Aber was hat das mit uns zu tun? Wir erleben einen Exodus von LGBT-Menschen aus Russland, die aus dem Land fliehen und im Westen um Asyl nachfragen. Beispielsweise in den Niederlanden stiegen im Jahr 2012 die Asylgesuche von Russen um 63%. Oder Zahlen aus Deutschland: Im ersten Halbjahr 2013 stellten rund 10 000 Russen einen Asylantrag, im ersten Halbjahr 2011 waren es nur 900. Die aktuelle Situation in Russland vertreibt die Menschen. Die niederländische Regierung hat darum auch die Asylkriterien für Schwule, Lesben und Transmenschen aus Russland gelockert. Es muss kein Beweis der polizeilichen Willkür mehr erbracht werden.

Ich möchte zusammenfassen: Homosexualität ist in Russland nicht akzeptiert, es gibt viel Homophobie, treibende Kräfte sind Ignoranz, eine intolerante Religion, es gibt keine freie Presse, es können keine Fakten über Homosexualität veröffentlicht werden, und es gibt kalkulierende Politiker, die LGBT-Menschen als Mittel benutzen, um populärer zu werden. Wir sehen ein Land, das sich um die internationale Kritik foutiert, Menschenrechts-Standards nicht einhält, Entscheide des europäischen Menschengerichtshofes nicht befolgt. Dazu kommt, eine freie Debatte über all dies ist nicht mehr möglich. LGBT-Menschen werden marginalisiert. Darum bewundere ich die beiden Aktivistinnen, welche heute anwesend sind. In einer solch schwierigen Situation geht ihr euren Weg weiter, versucht die Aufmerksamkeit der Welt zu erhalten, um zu berichten, was euch und allen LGBT-Menschen in eurer Heimat widerfährt. Ihr braucht all unsere Unterstützung.»

 

Podiumsdiskussion

Hans-Peter Fricker, Leiter der Poko, moderierte das Podium. Den Akzent der Diskussion möchte er auf die Frage legen, was man tun könne in internationalen Gremien, auf Regierungsebene, aber auch in der Unterstützung von NGO’s und in der Öffentlichkeitsarbeit.

 

Ob Sie ergänzende Bemerkungen zu den Einführungsreferaten habe, war seine erste Frage, die er an Svetlana Zakharova stellte.

«Ich möchte mich kurz halten. Die beiden Redner haben die Situation sehr gut geschildert. Zum niederländischen stellvertretenden Botschafter, der in seinem Haus an einen Stuhl gefesselt wurde, wie Boris berichtete, gab es vor kurzem eine interessante Entwicklung. Ich erhielt eine Mail von der Staatsanwaltschaft Moskau, welche den Tathergang schilderte und um unsere Expertenmeinung nachfragte, was LGBT bedeute. Offenbar ist es sehr schwierig, Google zu benützen. 

Das Anti-Propaganda-Gesetz hat sehr negative Auswirkungen auf die LGBT-Community, aber andererseits sind wir nun sichtbar geworden. Vorher konnte unsere Regierung sagen, es gibt bei uns keine Schwulen, Lesben und Transmenschen, jetzt kann das niemand mehr. Das ist ein Resultat dieses Gesetzes, und wir haben dadurch auch viel Unterstützung erhalten. Es gib jetzt eine Elterngruppe, wir haben Verbindungen zu anderen Menschenrechtsorganisationen, auch das ist eine Folge des Gesetzes. Das Ganze hat zwei Seiten.

Zur Arbeit des ‹Russian LGBT Network›: Wir wollten ein Buch herausgeben und ich hatte Kontakt zu einem grossen Verlagshaus in St. Petersburg. Alles schien bestens und wir haben auch einen Preis vereinbart. Und dann fragte die Kontaktperson nach, welche Organisation das Buch herausgebe. Sie verschwand für kurze Zeit und kam zurück mit der Antwort, sie hätte keine Bewilligung mit uns zusammen zu arbeiten. 

Das Gleiche passierte mit einer der grossen Donation Crowd Founding Platform: Wir haben eine Kampagne zusammen ausgearbeitet und am Schluss teilte man uns mit, es sei nicht möglich diese durchzuführen, ihr Anwalt habe das angeschaut und wegen dem Anti-Propaganda-Gesetz gehe es nicht. 

Ganz unglaublich war die Geschichte mit dem Hotel Hilton in Moskau. Hilton ist weltweit bekannt für die Unterstützung von Gay Prides, sie positionieren sich als gayfriendly. Einen Tag vor unserem Event in Moskau stornierten sie all unsere Buchungen, unsere Hotelzimmer, den Konferenzraum, einfach alles, ohne irgendeine Begründung. Wir kontaktierten Hilton Worldwide, deren Antwort war: ‹So ist das Geschäft. Wir bedauern das sehr, aber was können wir tun?› Das ist das Umfeld, in dem wir uns heute befinden. 

Was tun wir konkret? Wir haben eine Hotline, jedermann kann gebührenfrei aus ganz Russland anrufen, wir geben Rechtsauskünfte und psychologische Beratung, und arbeiten mit regionalen Gruppen zusammen. Die Situation in den grossen Städten unterscheidet sich sehr von der Lage im Rest des Landes. Wir versuchen herauszufinden, was man in den ländlichen Regionen braucht und zeigen ihnen auf, wie sie das lokale Fundraising machen können.

Die Situation ist nicht nur sehr schwierig für die LGBT-Community, sondern auch für alle Menschenrechts-Aktivisten. Es gibt ein Gesetz, das ausländische westliche Unterstützung verbietet. Wenn Leute mich fragen, für wen arbeitest du, und ich erkläre für eine NGO, dann fragen sie für welchen Staat? Sie können es nicht fassen, dass unsere Unterstützer und freiwilligen Mitarbeiter an das glauben, was wir machen. Es ist wirklich schwierig, aber ich bin wie Gulya optimistisch, ohne diese Einstellung würde es keinen Sinn machen, weiter zu kämpfen. Der Westen ist ein gutes Beispiel, Dinge können sich ändern.» 

Hans-Peter übergab dann das Wort an Max Schmid, mit der Frage, ob die neokonservative Bewegung nur die Macht des Regimes Putin stützt, oder es andere Faktoren gebe, die man benennen muss zu dieser gegen die Menschenrechte, gegen den Westen und gegen das Ausland gerichteten Bewegung. 

«Das ist ein ganz zentraler Punkt. Wenn wir vor einem Jahr debattiert hätten, dann hätten wir wahrscheinlich diese Anti-Propaganda-Gesetzgebung noch nicht richtig verstanden. Es waren kirchennahe Kreise und einzelne Parlamentarier die in St. Petersburg Druck machten. Heute muss man sagen, das war das erste Mal, dass sich das ‹Neue Russland› zu erkennen gab. In den letzten zwei Jahren hat sich eine Art Ideologie gebildet. Das Anti-Propaganda-Gesetz steht nicht allein, die Adoption von russischen Kindern durch amerikanische Eltern wurde verboten, ein Blasphemie-Gesetz wurde verabschiedet, alles Dinge, die man in Amerika einer Tea Party zuschreiben würde. Wenn man das zusammen nimmt, sieht man, das sind Elemente einer ideologischen Aufrüstung. Der Kern all dieser Gesetze ist antiwestlich. In den Nullerjahren war das nicht so, aber jetzt wird in den Schulen gelehrt, wir Russen sind anders, wir sind nicht Europa, wir haben die Aufgabe den westlichen Einfluss zu stoppen. Man spricht heute von ‹Eurosojus›, europäisches Sodom.

Anfang nahm diese Entwicklung in den wirtschaftlichen Krisenjahren. Und es erklärt sich aus dem Schock des Regimes, dass die Wiederwahl von Putin nach Medwedew nur Dank Wahlmanipulation zustande kam.»

Dann übergab Hans-Peter das Wort an Andreas Gross mit der Frage: «Es gibt bei uns auch eine Partei, für die alles was mit Europa zu tun hat, Pfui ist. Ist das ein genereller Trend, und wenn ja, warum?»

«Es gibt in Europa überall nationalistische Bewegungen und generell werden supranationale Errungenschaften nach dem Krieg, wie die Menschenrechte, in Frage gestellt. Die Seele des Europarates ist die Menschenrechtskonvention. Die Würde des Menschen ist nicht Sache der einzelnen Staaten, sie gilt umfassend weltweit. Diese Erkenntnis aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts wird heute vielerorts von nationalistischen Kreisen in Frage gestellt. Doch wenn die nationalistische Rhetorik in Ost- und Westeuropa auch ähnlich klingt, das Leiden in Russland steht auf einer ganz anderen Ebene. Die Worte sind die gleichen, die Realitäten sind ganz anders.

Russland wurde 1996 Mitglied des Europarates. Schon damals gab es Diskussionen, ob das richtig ist oder falsch. Ich war immer der Meinung, es ist richtig. Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte, das sind ständige Lernprozesse, es wird nie fertige, perfekte Demokratien geben. Auch bei uns gibt es noch hunderte von Verbesserungsmöglichkeiten. Wenn Russland diesen Weg gehen möchte, sollte man das unterstützen. Deshalb war es richtig, Russland in den Europarat aufzunehmen.

Der Anfang der russischen Demokratie ist verknüpft mit einem wirtschaftlichen Niedergang, einer dramatischen ökonomischen Krise. Seither hat für viele Russen Demokratie eine negative Konnotation. In der Talsohle der Krise kam Putin an die Macht und gleichzeitig ist der Öl- und Gaspreis gestiegen. Es entstand eine extrem reiche kleine Schicht von Leuten, welche Staat und Wirtschaft kontrollieren. Zur Absicherung der eigenen Herrschaft orientiert man sich nicht mehr an demokratischen westlichen Vorbildern, sondern man sagt, man sei eine eigene Zivilisation. Dass die Bürger nach der Machtübergabe von Medwedew an Putin spontan auf die Strasse gingen, war ein Schock für das Regime und die herrschende Schicht.

Seither wird die LGBT-Community als Sündenbock diskreditiert. Dies ist Ausdruck der Erfahrung dieser Schwäche. Es dient zur Etablierung der privaten Herrschaft des Regimes, das offensichtlich auf wackligeren Beinen steht, als das den Anschein macht. Dass im diesen Frühling in der Ukraine zum zweiten Mal eine Bürgerrevolution statt fand, dem Bruderland, das man unbedingt wollte für eine eigene ‹Eurasische Union›, das war ein weiterer Schock für das Regime.»

Hans-Peter stellte dann eine Frage an die beiden Gäste aus St. Petersburg: «Ich habe gelesen, der Mittelstand ist in Russland ökonomisch bedroht. In schwierigen Zeit denkt der Mittelstand eher konservativ. Ist das jetzt der Fall? Gibt es eine Bedrohung der Schicht, welche die Gesellschaft zusammenhält?»

Svetlana Zakharova: «Es ist schwierig, eine abschliessende Beurteilung zur Lage der Mittelklasse zu machen. Wenn es überhaupt eine Mittelklasse im westlichen Sinne gibt, dann ist sie sehr schwach. Es gibt sehr viele freiberufliche Personen ohne soziale Absicherung. Diese Leute haben Angst. Sie sind durch die staatlichen Medien beeinflusst und haben keine eigene Meinung. 

Aber es ist wie mit einem Schneeball, der grösser und grösser wird bis er eine Lawine auslöst. Die Krise in der Ukraine ist sehr präsent. Viele Leute haben verwandtschaftliche Beziehungen und hören somit ganz andere Sachen, als sie im Fernsehen sehen. In der Öffentlichkeit ist es sehr riskant zu sagen: ‹Ich bin gegen die Politik der russischen Regierung›. Aber im privaten Kreis sprechen die Leute darüber. Es ist schon fast wieder so wie am Ende der Sowjetära.»

Gulya Sultanova: «Wenn es eine Mittelschicht gibt, dann ist diese schon frustriert. Einerseits sieht man, Russland wird sanktioniert, die Waren werden knapp. Als die ersten Sanktionen im August zu greifen begannen, war es schon fast wie in Sowjetzeiten, die Regale in den Supermärkten waren leer. Die Diskrepanz zwischen Auge und Ohr, das was man am Fernsehen sieht und das was man in privaten Gesprächen hört, diese vergangenen Zeiten scheinen zurückzukommen. Man kann vorhersehen, dass soziale Unruhen kommen werden.»

Andreas Gross: «Man muss wissen, in Russland lebt der grösste Teil der Bevölkerung in ländlichen oder kleinstädtischen Verhältnissen. Die haben nur das staatliche Fernsehen als Informationsquelle. Das ist die Machtbasis von Putin. Er weiss ganz genau, in St. Petersburg und Moskau hat er nicht einmal die Hälfte der Leute hinter sich. In Russland gibt es eine tausendjährige autoritäre Kultur. Nur das wird nicht mehr haltbar bleiben. Die gesellschaftliche Situation wird eines Tages explodieren.»

«Herr Botschafter Wild, sie waren vor wenigen Tagen in Russland. Natürlich haben sie mit Regierungsstellen gesprochen, aber auch mit NGO’s. Wie waren Ihre Erfahrungen und was ist der Standpunkt der offiziellen Schweiz?»

«‹Homosexualität ist unvereinbar mit den traditionellen Werten unserer Gesellschaft.› Das höre ich nicht nur in Russland, sondern auch in afrikanischen Ländern. Dieser Satz ist sehr gefährlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich dieser Satz in der internationalen Menschenrechtsdiplomatie durchsetzt. Warum? Es gibt zwei Ebenen. Erstens ist es eine Relativierung der Universalität der Menschenrechte. Heute wäre eine Deklaration der Menschenrechte nicht mehr möglich. Wir müssen die Deklaration verteidigen. Eine Relativierung der Universalität der Menschenrechte ist für die Menschenrechtspolitik der Schweiz absolut inakzeptabel. Ich möchte das ganz klar sagen

Die zweite Ebene: Diese Relativierung gibt Anlass zur Beschneidung der Meinungs-, der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit, namentlich von LGBT-Menschen. Diese Beschneidung der Freiheiten und des Rechts, wie es das vorher gezeigte Video zur Zensur illustriert, führt zur Stigmatisierung, führt zur Passivität der Mehrheit gegenüber Unrecht, das einer Gruppe zugefügt wird. Gesetzlich ist Homosexualität in Russland nicht verboten. Doch durch traditionelle Werte werden Mobbing und Gewalt gegen LGBT-Menschen hingenommen, welche um ihre Arbeit, ihre Sicherheit, wenn nicht sogar um ihr Leben fürchten müssen.

Weltweit werden unter dem Vorwand des Schutzes von traditionellen Werten LGBT-Menschen gesetzlich diskriminiert. In Nigeria und Uganda, wo es sogar verboten ist, sich öffentlich für LGBT-Menschen einzusetzen. Aber auch in Russland, wohl gemerkt ein Mitglied des Europarates, hat man Massnahmen gegen nicht traditionelle sexuelle Beziehungen ergriffen. Was bedeutet nicht traditionell? In einem Land, das sich halb im Kriege befindet, da bedeutet das schnell antirussisch; eine NGO die Kontakt zu ausländischen NGO’s hat, das bezeichnet ein anderes Gesetz als ausländische Agententätigkeit und das bedeutet antirussisch. Das legitimiert dann schon fast die Schwulenhatz und gewalttätigen Übergriffe, wie wir sie es im zweiten Filmbeitrag gesehen haben. Das Gleiche hat man in den 30er Jahren in Nazi-Deutschland gesehen. So fängt es an. Die Lage ist ernst. 

Was kann nun die Schweizer Diplomatie tun. Ich bin zuständig für die Menschenrechtspolitik der Schweiz. Wir verteidigen die Universalität der Menschenrechte, sie gelten für alle Menschen überall. Es darf keine Inseln der Diskriminierung geben unter dem Vorwand der kulturellen Tradition. Doch wenn wir das sagen, wird oft entgegnet, das sei ein Trick, um die westliche Kultur, wenn nicht sogar Dekadenz, zu verbreiten. 

Es werden von der Community üblicherweise LGBT-Rights gefordert. Doch wir, die schweizerische Diplomatie, fordert Human Rights for LGBT. Wenn wir von LGBT-Rights sprechen, dann wird uns gesagt, ihr wollt diese Gruppe von Menschen privilegieren. Nein, wir wollen dass diese Menschen, die oft diskriminiert werden, die gleichen Rechte haben. Das ist der Ansatz der Schweizer Diplomatie, um nichtwestliche Länder in unser Lager zu holen.

Wir müssen die Länder, welche LGBT-Menschen diskriminieren, immer wieder – nicht aggressiv aber beharrlich – mit der stattfindenden Diskriminierung konfrontieren. Leere Phrasen, wie: ‹Wir haben kein Problem, Homosexualität ist bei uns legal›, genügen uns als Antwort nicht. Wir konfrontieren unsere Gesprächspartner mit konkreten Beispielen von Diskriminierung. Das geht aber nur, wenn wir vor Ort mit den Betroffenen in Kontakt stehen. Bei meinem letzten Besuch in Russland traf ich einen jungen Mann vom russischen Gay-Sport Verband. Er schilderte mir seine Realität, seit er sein Coming-out gemacht hat. Er will mit seiner Organisation Sportanlässe durchführen. Er erlebt das Gleiche, wie es schon geschildert wurde, man reserviert Hotels und Örtlichkeiten, am letzten Tag wird alles abgesagt oder es gibt massive Belästigungen des Anlasses. In seinem Job, er ist Lehrer, legt ihm, nicht seine Kollegen, aber die Schulleitung nahe, er solle kündigen, er sei ein Problem für die Schule. Dieses Beispiel habe ich der russischen Ombudsfrau Elena Panfilova aufgezeigt. Sie ist Mitglied des Menschenrechtsrates von Putin. Sie sagte mir, der Regulierungssalat in Russland führe zu grotesken Situationen. In diesem Stab gebe es zwei Mitglieder, die nach den aktuellen Gesetzen als ausländische Agenten zu betrachten seien.

Der junge Mann vom Gay-Sport sagte mir auch etwas Positives: ‹Zum Glück ist die russische Bevölkerung für LGBT-Anliegen viel offener als die Politik der Regierung.›» 

«Boris Dittrich, was kann man sich von der russischen Regierung für die Menschenrechte erhoffen?»

«Was wir als internationale NGO sehen, es ist sehr wichtig, dass wir Fakten haben. Die meisten Politiker verstecken sich hinter leeren Phrasen. Sie sagen beispielsweise, bei uns gibt es keine Schwulen. Als ich Kirgistan war, fragte mich der Premierminister, wie viele Schwule es in seinem Land gebe? Mir müssen die Menschenrechtsverletzungen aufzeigen und dokumentieren. Dafür müssen wir mit lokalen Gruppen zusammenarbeiten. Es ist sehr wichtig, sonst sagen sich die Politiker, das ist eine internationale Organisation und die verstehen unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Traditionen und unsere Religion nicht.

Ich bin sehr froh, dass Botschafter Wild erwähnt hat, es gibt keine LGBT-Rights. Es gibt immer wieder das Missverständnis, Schwule und Lesben wollten mehr Rechte oder andere Rechte. Für was wir einstehen, das sind die gleichen Rechte für alle. LGBT-Menschen haben das Recht auf gleiche Rechte.

Ende Monat wird im Menschenrechtsrat der United Nations in Genf eine neue Resolution vorgestellt über gleiche Rechte für LGBT. Diese Resolution wird von Chile und Uruguay eingereicht, unterstützt von Thailand und anderen nicht europäischen Ländern. Das wird ein Meilenstein sein. Leider kann man vorhersagen, wie Russland stimmen wird. Trotzdem, es ist wichtig, dass die Welt sieht, die Mehrheit der Staaten akzeptiert die Diskriminierung von LGBT-Menschen nicht, sie sind keine zweitklassigen Bürger.»

«Was können wir als Organisation wie Network, was können wir als Einzelner tun, damit die Situation für die LGBT-Community in Russland, oder generell die Menschenrechtssituation sich verbessert?»

Svetlana Zakharova: «Finanzielle Fragen sind immer sehr evidente Probleme, aber sie sind nicht alles. Während den Olympischen Spielen von Sotschi erhielten wir Briefe aus aller Welt, die uns Hilfe anboten. Unsere grösste Sorge ist, dass wir vergessen gehen und wieder in eine Isolation wie zu Sowjetzeiten zurückfallen. Wir sind froh, wenn wir Kontakte aufrecht erhalten können mit dem Rest der Welt. Auch wenn das auf einem bescheidenen Niveau weitergeht, wie gemeinsame Kunstausstellungen, Filmfestivals, all die Dinge, die unsere Behörden nicht als Bedrohung ansehen.»

Guyla Sultanova: «Nur schon zu wissen, es gibt Leute die gleich fühlen wie wir, aber in ganz anderen Verhältnissen leben, das gibt Hoffnung. Es hilft die eigene innere Homophobie zu überwinden. Und es ist ganz wichtig, dass ihr bei euch die gleichen Rechte habt. Je mehr Länder dies verwirklichen, um so grösser wird die Hoffnung bei uns, dass auch wir eines Tages gleiche Rechte erhalten. Und ich hoffe, dass die schweizerische Diplomatie weiterhin mit unseren Behörden in Kontakt bleibt und nicht Russland als hoffnungslosen Fall abschreibt und sich anderen Dingen zuwendet. Wir wissen nicht, welcher Stein die Dinge ins Rollen bringt. Gemeinsame Kulturanlässe, gemeinsame Sportanlässe, das ist inspirierend für die russische LGBT-Communtiy. Und natürlich auch finanzielle Zuwendungen sind willkommen. Wir müssen heute immer alles was wir machen von Anwälten überprüfen lassen. Und wir brauchen Reserven, um Bussen bezahlen zu können.» 

Botschafter Wild: «Die Menschenrechtslage in Russland ist generell schwierig. Unter starkem Druck stehen Migrantengruppen. Doch wir haben beschlossen, vermehrt auch Kontakte zur russischen LGBT-Community zu pflegen. Auf internationaler Ebene werden wir LGBT-Initiativen fördern und den Dialog mit den russischen Behörden weiterführen.»

Boris Dittrich: «Als internationale Menschenrechtsorganisation haben wir viele Möglichkeiten. Wir haben ein Büro in Moskau, ich kann nach Russland reisen und wieder ausreisen und der Welt sagen, was los ist. Wer Business-Kontakte mit russischen Unternehmen hat, sollte das Thema ansprechen. Es muss dabei nicht zu einem Einverständnis kommen, wichtig ist, dass die russische Seite versteht, dass Schweizer Geschäftsleute besorgt sind über die russische Gesetzgebung und über die russische Regierungspolitik.»

Andreas Gross: «Ich finde diese Veranstaltung fantastisch. Das ist in der Schweiz ganz selten, dass man Betroffene und Schweizer Experten einlädt und diese miteinander in einen Dialog treten. Ausser einer Zeitung schafft das sonst niemand mehr.

Herr Botschafter Wild hat völlig recht mit diesen traditionellen Werten. Wir müssen uns bewusst werden, wie brutal traditionelle Gesellschaften waren. Die Moderne ist die befreiende Gesellschaft – traditionelle Werte sind absolute Brutalo-Werte! Man findet die Kraft zu einem solchen provokativen Gedanken nur, wenn man miteinander darüber spricht. Wir müssen den Mut finden, dem Argument der Natürlichkeit oder Tradition zu widersprechen.»

 

Fragen aus dem Publikum

Anschliessend hatte das Publikum die Gelegenheit Fragen stellen. Darunter diese bemerkenswerte:

Frage an Botschafter Wild: «Wann endlich wird in der Schweiz Homosexualität als Asylgrund akzeptiert?»

«Ich muss die Frage an die Parlamentarier im Saal weiterleiten. Wie Sie wissen, sind wir Teil der Executive, wir machen keine Gesetze, wir können höchstens Vorschläge machen. Das Bundesamt für Justiz ist für das Asylwesen zuständig. Meine Domäne ist die Aussenpolitik. Die schweizerische Diplomatie versucht ein würdiger Vertreter des Landes von Henry Dunant zu sein. Wir können Freunde von Russland sein, aber wir sagen, was nicht in Ordnung ist, dort, wo wir uns auskennen, dort, wo wir eine Weltmacht sind, das sind die Menschenrechte und humanitäre Politik. Das was wir sagen wird gehört, und das nutzen wir auch aus mit dem Ziel, das Leiden der Menschen zu lindern.»

Der im Saal anwesende Nationalrat Martin Naef ergriff darauf das Wort.

«Zuerst möchte ich mich bedanken bei Botschafter Wild für seine Arbeit. Sie ist ein wichtiger Mosaikstein in der schweizerischen Aussenpolitik. Was den Asylgrund betrifft, es liegt nicht so sehr an den gesetzlichen Grundlagen, die nicht vorhanden sind. Es gibt die Möglichkeit, Asyl zu gewähren aufgrund von Diskrimierung und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat schon gesagt, selbstverständlich sind LGBT-Menschen eine soziale Gruppe. Der europäische Gerichtshof hat festgestellt, man kann niemanden zurückschicken in ein Land wie den Iran oder Uganda mit der Begründung, du musst deine Homosexualität nicht offen ausleben. Es gehört zu den fundamentalen Menschenrechten, seine sexuelle Identität ausleben zu dürfen. Es ist eine Lernfähigkeit zu wünschen von Seiten unserer Behörden und Gerichte. Und wir Parlamentarier müssen den Bundesrat und die Verwaltung immer wieder mit Eingaben aus dem Busch locken.»

 

Anschliessend wurde ein Apéro serviert, wo Kontakte geknüpft werden konnten und sich die Gespräche mit den Experten vertiefen liessen.

Bericht Thomas Voelkin

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